Die Stadt in zweiter Ebene? Architektur, Infrastruktur und das Bild der Stadt im Wiederaufbau und Ausbau Wiens 1945–1985
Atreju ALLAHVERDY
2022 WS
Sabine Plakolm-Forsthuber
Wird nach stadtbildprägenden Architekturen und Kompositionen der Nachkriegszeit gefragt, liegt der Fokus zumeist auf singulären Werken aus dem Œuvre einzelner namhafter Agitatoren und solchen „Schlüsselbauten“, die aus der Masse pragmatischer Wiederaufbauprojekte qualitativ hervorzustechen oder für ihre Bauaufgabe als symptomatisch zu identifizieren scheinen. Ebenso lässt sich jenes Werk tendenziell an charakteristischen Straßenzügen, Magistralen, Plätzen oder als geschlossene Ensembles wahrgenommenen städtebaulichen Situationen auf Straßenebene oder topographisch erhöhten und gestalterisch akzentuierten Standpunkten innerhalb der Stadt verorten.
Kaum beachtet zeigen sich jene städtischen Architekturen und Anlagen, die sich sowohl in ihrer Prominenz und scheinbar attestierten visuellen Relevanz wie häufig auch anhand ihrer topographischen Situierung einer ‚zweiten Ebene‘ innerhalb der funktionalen und gestalterischen Organisation der Großstadt verorten lassen.
Das Projekt beleuchtet die bauliche Erschließung dieser zweiten topographischen Ebene als erweiterter öffentlicher Stadtraum am Beispiel Wien nach 1945. Ziel ist die systematische Erfassung der entstandenen Architekturen und Infrastrukturen von Fußgängerpassagen, Haltestellen und Bahnhöfen, Laden- und Einkaufszeilen bis hin zu Fußgängerzonen sowie deren einhergehender Etablierung in der zeitgenössischen Bild- und Medienproduktion. Ausgehend von der frühen Nachkriegszeit bis Mitte der Achtzigerjahre werden Projekte und Beispielbauten untersucht und innerhalb der europäischen Nachkriegsarchitektur verortet. Diese bisher wenig beachteten Bauaufgaben, die in mehreren Phasen der Nachkriegszeit in zweiter Ebene entstanden, waren zunächst der Erfüllung verkehrlicher Bedürfnisse sowie der Entlastung und optimierten Erschließung der primären Ebene auf Straßenniveau gewidmet. Eigen ist ihnen jedoch die zunehmende Verlagerung öffentlicher Angebote und Nutzungen sowie die wechselseitige Übertragung räumlich-funktionaler wie auch gestalterischer Lösungen zwischen dem etablierten Straßenraum und sekundärem Terrain.
Einhergehend mit dieser vertikalen Entflechtung des städtischen Raums fand auch eine Übertragung der zeitgenössischen Diskurse um Architektur und Städtebau in den Untergrund statt. Parallel zu den netzwerkartigen Anlagen unter der Stadt, zeichnen sich vielfach Geflechte der in Planung und Ausführung involvierten Personen ab – so etwa die Architekten Adolf Hoch, Kurt Schlauss und Wilhelm Holzbauer in Wien. Oftmals prägten diese Beteiligten erhebliche Teile des Stadtbildes – in Hoch- sowie in Tieflage – auf nachhaltige Weise und zeichneten dafür verantwortlich, den visuellen Charakter der Stadt und deren wahrgenommenes ‚Stadtbild‘ im Sinne einer visuellen ‚Identität‘ entscheidend mitzugestalten. Zugleich lässt sich in der gesamten Bildproduktion im Nachkriegs-Wien eine auffällige Dichte an Verweisen oder expliziten Darstellungen einer neuentstehenden und vorbildlichen vertikalen Ordnung der Stadt beobachten: sowohl in den bildenden Künsten – sei es in Form von ‚Ereignisgemälden‘ oder ‚-grafiken‘ unterirdischer Baustellen, Brücken oder Tiefbauten, in der Fotografie als auch in Visualisierungen, Studien und Skizzen, die Ideen veranschaulichen, Möglichkeiten erklären oder die Leistungsfähigkeit aller Beteiligten demonstrieren.
Die vielschichtigen Verflechtungen und Auswirkungen des Erschließens der zweiten städtischen Ebene ab Mitte des 20. Jahrhunderts auf Architektur, Städtebau und bildende Kunst sowie auch insbesondere auf Praxis und Wahrnehmung deren Nutzer*innen eröffnen eine vielschichtige Bandbreite vielversprechender Perspektiven, die ihrerseits bedeutenden Erkenntnisgewinn in Aussicht stellen.
Betreut von:
Sabine PLAKOLM-FORSTHUBER TU Wien